Rollsiegelbilder

Rollsiegelbilder
Rollsiegelbilder
 
In denjenigen Schuttschichten im Eanna-Komplex von Uruk, die die meisten der »Archaischen Tafeln« enthielten, wurden auch große Mengen von Tonfragmenten gefunden, die Reste von Siegelabdrücken aufwiesen. In Form von Stempeln waren Siegel bereits seit der Jungsteinzeit des 6. Jahrtausends v. Chr. bekannt. In eine Siegelfläche wurden geometrische Muster, später auch einzelne Tiere oder Tiergruppen eingegraben, sodass beim Abdruck des Siegels auf feuchtem Ton ein Relief entstand. Da die Muster sich voneinander unterschieden, ermöglichten sie dem Kundigen anhand des Siegelabdrucks die Identifizierung eines bestimmten Siegelinhabers. Siegel waren somit zu allen Zeiten ein wichtiges Instrument, um wirtschaftliche Vorgänge zu dokumentieren und unter Kontrolle zu halten. Zudem konnten alle Gegenstände, die mithilfe von Schnüren verschlossen werden konnten, zusätzlich gesichert werden, indem man um den Knoten der Schnur ein Stück Ton knetete und dieses mit einem Siegelabdruck versah. Dadurch wurde der verschnürte Inhalt unter den Schutz des Siegelinhabers gestellt. Auf diese Weise konnten mit Schnüren verknotete Ballen oder durch Verschnürungen gebildete Türverschlüsse gesichert werden, aber auch Gefäße, über deren Öffnung man Lappen gezogen und diese um den Hals verschnürt hatte. Darüber hinaus hatten Siegel jedoch auch Bedeutung als Schmuck, ja sogar als Amulette. Man kennt einige, allerdings nicht gut verständliche Texte, die sich mit den magischen Eigenschaften der verschiedenen Steine beschäftigen; besonders die Farbe dieser Steine dürfte demnach eine Rolle gespielt haben.
 
Die Muster der Siegel wurden im Laufe der Zeit immer vielfältiger. Dies lässt vermuten, dass die Zahl derer immer größer wurde, die über einen Siegelabdruck identifizierbar sein mussten, das heißt am Wirtschaftsgeschehen verantwortlich beteiligt gewesen sein müssen. In diesen Zusammenhang gehört die Entstehung des Rollsiegels. Denn die bei dieser fortgeschrittenen Technik viel größere Siegelfläche erlaubte die Anbringung ausgedehnterer Muster, sodass die Zahl der unverwechselbaren Siegelbilder erheblich gesteigert werden konnte. Wann innerhalb der frühen städtischen Hochkultur erstmals Rollsiegel auftraten, lässt sich für Babylonien nicht entscheiden. Funde aus Grabungen in Syrien zeigen aber, dass Rollsiegel älter sein müssen als die Schrift. Als dann zunehmend die Schrift Verwendung fand, wurden in der frühesten Schriftstufe bisweilen noch Siegel auf Tafeln abgerollt. Doch dieser Gebrauch verlor sich fast völlig in der nächsten Phase des Schriftgebrauchs.
 
Man weiß nicht, wie sich die Rollsiegelbilder innerhalb der Zeit der frühen städtischen Hochkultur veränderten. Vermutungen lassen sich jedoch über den Einsatz von Werkzeugen zur Herstellung von Siegeln anstellen, der sich für die Zeit von Schicht IV nach Schicht III hin änderte. Dabei handelte es sich zum einen um Schaber, Stichel und feine Feilen, zum anderen um mechanische Werkzeuge wie Bohrer und Schleifrad, die ihre Wirkung durch erhöhte Rotation entfalteten; die erstgenannten dienten der Herausarbeitung der Details, letztere waren dazu bestimmt, die anfänglichen Grobarbeiten durchzuführen. Diese Grobspuren bestehen in den durch den Bohrer erzeugten halbkugelförmigen Vertiefungen oder den mit dem Schleifrad erzeugten geraden Linien. Gekrümmte Linien waren nur beschränkt darstellbar. Die dazu nötige Drehung des Werkstücks gegen das Schleifrad bewirkte eine charakteristische Erweiterung der Linie im Scheitelpunkt der Krümmung. Es hat den Anschein, als ob die bewusste Verwendung der unüberarbeitet belassenen Grobspuren in der Zeit der Schicht III zunähme.
 
Über mögliche Änderungen bei der Themenwahl lässt sich bislang gleichfalls nichts Genaues aussagen. Dass es bis heute so aussieht, als ob eine der umfangreichsten thematischen Gruppen, die »Gefangenenszene«, nur in den älteren Phasen vorkommt, mag Zufall sein. Ein häufig variiertes Thema ist auch die Prozession auf ein Gebäude zu, welches häufig nur als reich umrahmte Tür wiedergegeben ist. Meist tragen mehrere Personen verschiedene Gaben wie Nahrungsmittel und Schmuckstücke herbei; bisweilen hantieren sie offenbar mit Schlangen, die dann auch das Gebäude schmücken. Die Gebäude sind offensichtlich Stellvertreter für die in ihnen verehrte Gottheit, die für uns allerdings in keinem Fall benennbar ist. Häufig anzutreffen sind auch Siegel mit einfach hintereinander herschreitenden Tieren oder mit Szenen, in denen sich Löwen oder Fabelwesen gegenüberstehen; in letzteren Fällen wurde das Siegel häufig in eine wappenartige Form überführt, wobei die Schwänze oder auch die Hälse der Fabeltiere kunstvoll miteinander verschlungen sein können. Bisweilen findet man zudem Darstellungen mit der Fütterung von Tieren als Ausdruck der Fürsorge des Menschen für seine Herde. Vereinzelte Siegelbilder, auf denen Rinder von Löwen angegriffen werden, zeigen schon in dieser Zeit Tierkampfszenen, die in den folgenden Jahrhunderten thematisch die Hauptrolle spielten.
 
Bei einer zweiten Gruppe von kleineren Siegeln sind die Spuren der mechanischen Werkzeuge kaum je überarbeitet. Innerhalb ihrer stark abstrahierten oder geometrischen Motive ist auch die mögliche Variationsbreite geringer. Von dieser zweiten Gruppe haben sich ferner fast keine Abrollungen, dafür aber zahlreiche Originalsiegel erhalten, während wir von den Siegeln der ersten Gruppe fast nur Abrollungen, kaum aber Originale kennen. Die unterschiedliche Fundsituation lässt vermuten, dass beide Siegelgruppen unterschiedlichen Funktionen dienten oder in verschiedenen Bereichen benutzt wurden. Diese Differenzierung fand zu einer Zeit statt, in der bereits die Schrift Verbreitung gefunden hatte. Offenbar gab es also im wirtschaftlichen Geschehen Bereiche, zu deren Regulierung die Schrift nicht eingesetzt wurde. Dies kann als ein Hinweis darauf gelten, dass selbst ein vollständiger Zugang zu den schriftlichen Quellen uns noch nicht die ganze Komplexität der wirtschaftlichen Vorgänge erkennen ließe.
 
Die Tendenz, bewusst die Grobspuren zu belassen, führt in der folgenden Frühdynastisch-I-Zeit zu der manieristischen Form des Brokatstils: in äußerst abstrahierter Form wird das alte Thema der Tierreihe lediglich durch knappe Spuren des Schleifrads angedeutet. Als weiteres Motiv häufen sich neben einer starken Zunahme der geometrischen Muster in dieser Zeit die Darstellungen von Tierkämpfen, die in unendlichen Variationen das Bild der Siegelglyptik für die nächsten Jahrhunderte bestimmen. Neu tritt nun der Mensch hinzu, der die Herdentiere vor den Raubtieren schützt. Eine wesentlich geringere Verbreitung haben die Bankettszenen, bei denen sich zwei menschliche Figuren gegenübersitzen und aus Schalen oder Trinkrohren trinken, von Dienern umsorgt und oft von Musikern, Sängern und Tänzern unterhalten. Die gleichfalls seltener abgebildete Schifffahrt von Göttern in als göttlich gekennzeichneten Booten steht sicher mit Ausführungen in literarischen und kultischen Texten in Zusammenhang, nach denen sich die Götter regelmäßig mithilfe dieses in Babylonien gebräuchlichen Verkehrsmittels besuchten. Von der späteren frühdynastischen Zeit an werden Namensbeischriften auf Siegeln angebracht. Wenn in der Zeit der 3. Dynastie von Ur schließlich fast die Hälfte der Siegel mit Inschriften versehen sind, das nur in Grenzen variierbare Thema der »Einführung« alle anderen Motive zahlenmäßig bei weitem übertrifft und in vielen Fällen das Siegel nicht mehr abgerollt, sondern nur mit der Inschriftseite abgedrückt wird, wird deutlich, dass in dieser Zeit die Identifizierung von Personen über die Inschrift erfolgte.
 
Prof. Dr. Hans J. Nissen

Universal-Lexikon. 2012.

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